Reform «AHV 21»: ein Faktencheck – Teil 1

Am 17. Dezember 2021 hat das Parlament die Reform «Stabilisierung der AHV (AHV 21)» angenommen. Ziel der Reform ist, das finanzielle Gleichgewicht der AHV zu sichern und das Leistungsniveau in der AHV zu erhalten. Da das Referendum ergriffen wurde, findet am 25. September 2022 eine Volksabstimmung statt.

Die AHV ist wohl die wichtigste Sozialversicherung in der Schweiz. In diesem Artikel erhalten Sie wichtige Hintergrundinformationen, zudem werden zwei häufig geäusserte Behauptungen einem Faktencheck unterzogen. Der zweite Teil dieses Beitrags erscheint im Juni 2022.

 

Wie funktioniert die AHV?

Die 1948 eingeführte Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV beruht auf der Solidarität zwischen jüngeren und älteren Menschen. Diejenigen, die noch nicht im Pensionsalter sind entrichten Beiträge, die sogleich wieder als Altersrenten an die bereits Pensionierten ausbezahlt werden. Das nennt sich Umlageverfahren - die jüngere Generation zahlt für die nächste und ist nach der Pension ihrerseits auf die Beitragszahlungen der jüngeren Generationen angewiesen.

Im Zusammenhang mit der AHV wird deshalb oft auch vom «Generationenvertrag» gesprochen. Dabei handelt es sich jedoch um einen fiktiven Vertrag, um einen gesellschaftlichen Konsens, der sich aus den gesetzlichen Bestimmungen ableitet.

 

Warum befindet sich die AHV in einem finanziellen Ungleichgewicht?

Die Gründe können mit zwei Hauptursachen auf einen einfachen Nenner gebracht werden:

  • Die Bevölkerung wird immer älter und bezieht somit für eine längere Zeit Renten. Die Ausgaben steigen.
  • Die (erwerbstätige) Bevölkerung nimmt ab, wodurch sich das Verhältnis zwischen den Beitragszahlenden und den Rentenbeziehenden laufend verschlechtert (demografischer Wandel). Die Einnahmen sinken.
     

Die Lebenserwartung in der Schweiz steigt kontinuierlich. Das Bundesamt für Statistik publizierte folgende Zahlen:

Lebenserwartung im Alter 65 1948 2000 2010 2020 2050*
Männer 12.4 17.0 18.9 19.3 23.6
Frauen 14.0 20.7 22.2 22.2 26.1

*Prognose vom Bundesamt für Sozialversicherungen


Bleibt das Rentenalter der Männer bei 65 Jahren, verschlechtert sich das Verhältnis der Beitragszeit zur Dauer des Rentenbezugs von ursprünglich rund 28 auf künftig rund 54 Prozent - das heisst wir würden nach der Pensionierung nochmals über ein halbes Erwerbsleben lang Rente beziehen.

Zusätzlich kommt der demografische Wandel hinzu, der das Verhältnis von Beitragszahlenden und Rentenbeziehenden nochmals verschlechtert. Hintergrund ist, dass die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer[1], in den nächsten Jahren in den Ruhestand treten werden. Die Jahrgänge 1960 bis 1964 sind die geburtenstärksten Jahrgänge, die je in der Schweiz zu beobachten waren. Sie werden voraussichtlich in den Jahren 2024 bis 2029 pensioniert. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung und der gleichzeitig geringeren Geburtenrate hierzulande, müssen langfristig immer mehr Rentner von immer weniger Erwerbstätigen finanziert werden. Während bei Einführung der AHV sechs Beitragszahlende eine Rente finanzierten, kommen heute noch ca. 3,5 Berufstätige auf einen Rentner und bis 2045 wird das Verhältnis auf 2 zu 1 geschrumpft sein.

 

Wie kann die AHV saniert werden?

Es gibt im Grunde genommen nur drei Sanierungsmöglichkeiten für die AHV:

  1. Kürzung der Renten
  2. Zusatzfinanzierungen
  3. Erhöhung des Rentenalters

Möglich sind auch Kombinationen dieser Varianten. «AHV 21» verbindet eine Zusatzfinanzierung (zusätzliche MWST von 0,4 Prozent) mit einer Angleichung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre.

 

1. Rente kürzen

Weniger Rente erhalten - das will kaum jemand. Dies würde auch nicht durchgängig zur gewünschten Entlastung führen, denn die AHV ist immer im Verbund mit der Ergänzungsleistung (EL) zu verstehen. Die EL ist ebenfalls Bestandteil der ersten Säule. Die EL kommt dann zum Zug, wenn die Einnahmen und der Vermögensverzehr die minimalen Lebenskosten nicht decken. Sie ist eine existenzsichernde Bedarfsleistung, die individuell berechnet und aus allgemeinen Steuermitteln finanziert wird. Bei einer Kürzung der AHV-Rente würden die Ausgaben der EL zwangsläufig steigen.

 

2. Zusätzliche Finanzierung

Eine zusätzliche Finanzierung könnte durch höhere AHV-Beiträge erfolgen oder durch eine Erhöhung der MWST.

Eine Erhöhung der AHV-Beiträge führt zu einer Verteuerung der Arbeit. Dies ist nicht erwünscht, weil die Schweiz einen wesentlichen Teil der Wertschöpfung exportiert und eine Erhöhung der Sozialabgaben die Wettbewerbsfähigkeit im Export schmälern würde. Dies zusätzlich zum Umstand, dass der Schweizer Franken über die Jahre immer teurer geworden ist und die Exportwirtschaft damit schon genügend «Gegenwind» hat. Zudem würde durch eine AHV-Beitragserhöhung auch der Nettolohn des Einzelnen sinken, was die Kaufkraft von jedem einzelnen schmälert.

Bei der MWST gibt es etwas mehr Spielraum. Der Normalsatz beträgt aktuell 7,7 Prozent (mit der Annahme der Vorlage «AHV 21» würde der Normalsatz um 0,4 Prozent auf 8,1 Prozent steigen). Steuererhöhungen sind naturgemäss wenig beliebt. Sie belasten die Steuerzahler (direkte Steuern) beziehungsweise Konsumenten (MWST) und reduzieren deren Kaufkraft ebenfalls.

Ein Unterschied ist, dass bei MWST-Erhöhungen alle Konsumenten mitzahlen. Auch Pensionierte würden mit ihrem Konsum zur AHV-Sanierung beitragen. Bei Erhöhung der AHV-Beiträge dagegen werden die Lasten ausschliesslich von den Erwerbstätigen und den Arbeitgebenden getragen.

 

3. Länger arbeiten

Die Erhöhung des Rentenalters hätte einen zweifachen Effekt: Man spart Rentenzahlungen, weil die Renten später einsetzen und es ergeben sich Mehreinnahmen während der längeren Erwerbszeit.
 

Das Rentenalter im europäischen Vergleich

Die Zeit des Rentnerdaseins dauert zunehmend länger und ist ein Privileg der westlichen Industriestaaten, das hohe Kosten verursacht. Die Länder Westeuropas sind mit vergleichbaren Herausforderungen konfrontiert. Die meisten dieser Staaten haben das gesetzliche Rentenalter von Mann und Frau angeglichen. Das Rentenalter 65 ist heute noch am meisten verbreitet, es ist in Europa jedoch eine kontinuierliche Erhöhung zu beobachten.

Einige Länger kennen heute schon ein höheres Rentenalter (Irland 66 Jahre, Norwegen, Niederlande, Island, Dänemark und Italien jeweils 67 Jahre). Viele Länder haben für die kommenden Jahre bereits höhere Rentenalter beschlossen. In Deutschland wird das Rentenalter bis 2031 schrittweise auf 67 Jahre erhöht, ebenso in Belgien bis zum Jahr 2030. In Irland tritt man ab 2028 mit Alter 68 in den Ruhestand. In diversen Ländern gibt es eine flexible Zeitspanne, z.B. in Schweden 61 bis 67 Jahre und in Finnland 65 bis 70 Jahre.


Die Schweizerinnen und Schweizer haben eine der höchsten Lebenserwartungen weltweit. Das Rentenalter gehört im Vergleich mit den OECD-Staaten zu den tiefsten. Daraus resultiert eine der längsten Rentenbezugsdauern weltweit. Die Auseinandersetzung mit einem höheren AHV-Rentenalter ist deshalb ein wichtiges Thema.

Doch die Realität zeigt: Das Volk tut sich schwer, wenn es um die Vorsorge geht. Die letzte geglückte AHV-Revision erfolgte im Jahr 1997.

 

Die Reformen und Reformbemühungen der letzten 25 Jahre

Die 10. AHV-Revision im Jahr 1997 war die letzte grosse Reform der AHV.

Die 11. AHV-Revision, die eine Angleichung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre zum Ziel hatte, scheiterte im Jahr 2004 an der Urne.

Die 11. AHV-Revision (bis) mit demselben Ziel scheiterte im Oktober 2010 bereits im Parlament.

Am 24. September 2017 wurde die Reform der Altersvorsorge 2020 abgelehnt. Sie hatte mehrere Ziele verfolgt. Nebst der Angleichung des Frauenrentenalters sollte auch eine verbesserte Abstimmung mit der zweiten Säule erreicht werden.

Mit der Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) verbunden war eine Erhöhung der AHV-Lohnprozente um 0,3 Prozent (davon 0,15 Prozent zu Lasten der Arbeitnehmenden). Diese Reform trat am 1. Januar 2020 in Kraft.


Die nächste Abstimmung steht nun vor Tür. Wir gehen nachfolgend auf die bekanntesten Behauptungen im Zusammenhang mit der Reform «AHV 21» ein.

 

Behauptung 1: Die Erhöhung des Rentenalters führt zu einer höheren Arbeitslosigkeit, denn ältere Menschen haben kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Statistische Daten des SECO:

Arbeitslose per Dezember 2021 121'726 Personen
Arbeitslosenquote Gesamtbevölkerung   2,6 Prozent
Arbeitslose Alter 50 bis 64  37'754 Personen
Arbeitslosenquote Alter 50 bis 64   2,8 Prozent
Langzeitarbeitslose Alter 50 bis 64  13'532 (mehr als ein Jahr ohne Arbeit)


Die Arbeitslosenquote ist bei Personen über 50 nur unwesentlich höher als diejenige der Gesamtbevölkerung. Die doch relativ hohe absolute Zahl von älteren Langzeitarbeitslosen zeigt, dass es mit zunehmendem Alter schwieriger wird, eine neue Stelle zu finden.

Die Politik hat das erkannt und die «Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose» geschaffen. Seit 1. Juli 2021 wird damit das Existenzminimum von Betroffenen ab Alter 60 analog zur EL sichergestellt. In den vergangenen Jahren wurden jährlich rund 2'600 Personen ab Alter 60 ausgesteuert. Man geht davon aus, dass etwas mehr als 5'000 Personen die gesetzlichen Anforderungen für einen Anspruch auf eine Überbrückungsleistung erfüllen. Zudem haben arbeitslose Personen ab Alter 55 bereits seit 2011 einen verlängerten Anspruch auf Arbeitslosentaggelder.

Die Arbeitnehmenden im Bauhauptgewerbe sind besonderen körperlichen Belastungen ausgesetzt. Um ihnen eine vorzeitige Pensionierung zu ermöglichen, wurde am 1. Juli 2003 der Gesamtarbeitsvertrag für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe in Kraft gesetzt. Damit ist seit mehr als 18 Jahren der flexible Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe ab dem 60. Lebensjahr möglich.

Die geringeren Geburtenraten haben uns auch in den Fachkräftemangel geführt. Dieser wird künftig noch verstärkt dazu führen, dass erfahrene Mitarbeitende gerne über das Rentenalter hinaus beschäftigt werden. Ein höheres Rentenalter erhöht auch die Resterwerbszeit, sodass sich eine Neuanstellung mit Einarbeitung auch für den Arbeitgebenden lohnt.

Fazit: Grundsätzlich sind ältere Arbeitnehmende sehr gut im Arbeitsmarkt integriert. Besonders betroffene Berufsgruppen können branchenspezifische Lösungen treffen, wie es z.B. das Baugewerbe gemacht hat. Und die Leistungen der Sozialversicherungen sind dazu da, Härtefälle abzufangen.

 

Behauptung 2: Frauen sind bei der AHV benachteiligt.

Ein Blick in die AHV-Statistik 2020 widerlegt diese Behauptung:

AHV-Statistik 2020

Männer bezahlen insgesamt 66 Prozent der AHV-Beiträge, Frauen 34 Prozent
Männer beziehen insgesamt 45 Prozent der AHV-Renten, Frauen 55 Prozent
Frauen bezogen durchschnittlich 1'873 AHV-Rente pro Monat (die Rentnerinnen sind zudem zahlreicher)
Männer bezogen durchschnittlich 1'849 AHV-Rente pro Monat

Die Frauen zahlen demnach einen kleineren Anteil der Beiträge, beziehen jedoch höhere Renten während einer längeren Dauer. Das hat mehrere Gründe:

  • Durch das Splitting werden die Einkommen bei Ehepaaren und eingetragenen Partnerschaften zwischen der Partnern ausgeglichen.
  • Die Frauen haben eine höhere Lebenserwartung und beziehen daher nicht nur länger Alters- sondern auch Witwenrenten. Die meisten erhalten zudem eine Witwenrente bis zu ihrem Tod, während Männer nur eine Witwerrente erhalten bis zur Volljährigkeit ihrer Kinder. 97 Prozent aller Witwen-/Witwerrenten gehen an Frauen.
  • Männer verdienen zwar oft mehr, doch bei der AHV sind nur durchschnittliche Löhne bis 86'040 Franken rentenbildend (Stand 2022). Das bedeutet: Wer im Durchschnitt mehr verdient, zahlt Beiträge für diejenigen, deren Lohn tiefer ausfällt.
     

Die Entwicklung des Frauenrentenalters

Bei Einführung der AHV 1948 betrug das Rentenalter für beide Geschlechter 65 Jahre. Bei den ersten Revisionen 1957 und 1962 wurde das Frauenrentenalter auf 63 und dann auf 62 Jahre gesenkt.
 

Die 10. AHV-Revision 1997

Diese Reform war vor allem für die Frauen wichtig. Einerseits wurde das Frauenrentenalter von 62 auf 64 Jahre erhöht, andererseits erhielten auch verheiratete Frauen fortan eine eigene Rente. Die wichtigste Neuerung war jedoch die Einführung der Erziehungs- und Betreuungsgutschriften. Dank diesen erreichen Personen mit Familienpflichten ein höheres durchschnittliches Einkommen. Dies führt dazu, dass die Mehrheit der Ehepaare mit Kindern eine Maximalrente beziehen können.


Fazit: Bei der AHV gibt es keinen «Gender Pension Gap». Dieser Begriff gibt eher zu reden in der zweiten Säule, der beruflichen Vorsorge. Eine Angleichung des Rentenalters würde einen Teil dieses Problems bereits beheben.

Wichtig erscheint uns jedoch auch, sich bei der AHV nicht nur auf die finanzielle Sanierung zu konzentrieren. Es gibt auch einen gesellschaftlichen Reformbedarf. Die AHV widerspiegelt im Grunde immer noch die sogenannte «Versorgerehe». Andere Formen des Zusammenlebens werden ungenügend abgedeckt.

Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie im BDO Newsletter vom 15. Juni 2020: «Gleichstellung von Mann und Frau, Ehepaaren und Konkubinatspaaren bei der AHV».

Den zweiten Teil dieses Artikels ewartet Sie im Juni 2022.

 

[1] Es gibt keine einheitliche Definition, oft werden die Jahrgänge 1955 bis 1964 als Babyboomer bezeichnet.

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