Reform BVG21

Interview mit Ständerat Erich Ettlin

Hintergründe, heiss diskutierte Themen und die Frage: «Wie geht es weiter?»

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Hinweis: In den Aufklappmenüs erhalten Sie jeweils vertiefende Informationen zu den wichtigsten Begriffen im Kontext der BVG-Reform.

Myriam Minnig: Die Debatte um die Reform BVG21 hat im Dezember 2021 begonnen. Weil das Referendum zustande gekommen ist, wird das Volk voraussichtlich im Sommer 2024 darüber abstimmen. In Anbetracht der langen Vorbereitung starten wir mit einer vielleicht etwas frustrierenden Frage: Was passiert, wenn die Reform abgelehnt wird?

Erich Ettlin: Tatsächlich betrifft die Senkung des Umwandlungssatzes lediglich etwa 15 Prozent der Versicherten, nämlich diejenigen, die in einem gesetzlichen Minimalvertrag versichert sind. Die anderen rund 85 Prozent verfügen bereits heute über eine überobligatorische Lösung. Diese sehen vielfach schon tiefere Umwandlungssätze vor. Wenn die Reform abgelehnt wird, bleibt der hohe Umwandlungssatz bestehen und es findet weiterhin eine Umverteilung von den jüngeren Generationen zu den Pensionierten statt.

Myriam Minnig: Wäre eine Konsequenz davon, dass gefragte Arbeitsuchende eine Arbeitsstelle nicht annehmen, wenn die Arbeitgeberin nur eine Mindestlösung anbietet?

Erich Ettlin: Ja, das könnte passieren. 

 

Umwandlungssatz

Mit dem Umwandlungssatz wird das Alterskapital in eine jährliche Rente umgewandelt. Aktuell beträgt er 6,8%. Mit der Reform BVG21 wird er gesenkt auf 6,0%.

Beispiel: Wird die Person im Beispiel mit 65 pensioniert und lebt dann noch 20 Jahre, bezieht sie aktuell über 170'000 Franken mehr, als sie über die Jahre angespart hat. Dieser Fehlbetrag kann nicht ausschliesslich durch Kapitalerträge finanziert werden. Die Pensionskasse muss somit für die Rentenzahlung Geld verwenden, das von den noch aktiven Versicherten eingezahlt wird. Zur Deckung der entstehenden Lücken müssen spätere Generationen zusätzliche finanzielle Beiträge leisten.


CHF aktuellCHF BVG21
Alterkapital bei Pensionierung480'000480'000
Umwandlungssatz6,8%6,0%
Jahresrente32'64028'800
Total Rente in 20 Jahren652'800576'000
Fehlbetrag172'00096'000

Myriam Minnig: Die Reform sieht eine Senkung der Eintrittsschwelle vor. Einige Kreise wünschen sich gar eine Abschaffung der Eintrittsschwelle. Geht man davon aus, dass ab einer gewissen Grenze die Verwaltungskosten mehr ausmachen als die Vorsorge, drängt sich die Frage auf: Lohnt sich das noch?

Erich Ettlin: Das Thema Eintrittsschwelle war tatsächlich Gegenstand intensiver Diskussionen. Der ursprüngliche Vorschlag sah eine Halbierung auf rund 12'000 Franken vor. Allerdings haben wir später erkannt, dass dies zu geringen Renten und unverhältnismässig hohen Verwaltungskosten führen würde.

Eintrittsschwelle

Die Eintrittsschwelle bestimmt, ab welcher Lohnhöhe ein Anschluss an die Pensionskasse erfolgt. Aktuell liegt die gesetzliche Schwelle bei 22'050 Franken. Das heisst, nur wer im Jahr mehr als den genannten Betrag verdient, ist obligatorisch in der zweiten Säule versichert. Mit der Reform würde die Eintrittsschwelle auf 19'845 Franken gesenkt, damit werden rund 70'000 Erwerbstätige zusätzlich versichert.

Verwaltungskosten

Die Pensionskassen führen pro versicherte Person ein Konto - ähnlich wie eine Bank - sowie ein Schattenkonto, um festzustellen, wie hoch das Guthaben gemäss Obligatorium wäre. Für diese Arbeit werden Verwaltungsgebühren verrechnet, die je nach Pensionskasse unterschiedlich hoch sind. Dieser Aufwand fällt unabhängig von der Höhe des Guthabens an, das auf dem Konto liegt.

Myriam Minnig: Der flexible Koordinationsabzug wird vor allem für Teilzeitarbeitende eine Verbesserung der Vorsorge bringen. Ist diese Mehrbelastung für Arbeitnehmende und ihre Arbeitgebenden verkraftbar und sinnvoll?

Erich Ettlin: Natürlich wird die berufliche Vorsorge teurer. Die steigenden Kosten sind allerdings beabsichtigt, um den betroffenen Mitarbeitenden eine höhere Rente zu ermöglichen und somit ihre Kaufkraft im Alter zu verbessern. Bei diesen Überlegungen haben wir nicht nur die Teilzeitmitarbeitenden, sondern auch die Mehrfachbeschäftigten im Blick.

Myriam Minnig: Es gibt doch bereits heute die Möglichkeit, mehrere kleine Arbeitspensen als Gesamtes bei einer Pensionskasse zu versichern.

Erich Ettlin: Das stimmt, aber kaum jemand hat davon Gebrauch gemacht. Eine mögliche Lösung, die ebenfalls diskutiert wurde, war eine Zusammenrechnung aller Löhne mit anteilsmässiger Kostenbeteiligung je Arbeitgeber. Das wäre aber zu kompliziert geworden.

Koordinationsabzug

Da die zweite Säule eine Ergänzung zur ersten Säule (AHV/IV) darstellt, wird nicht mehr der ganze Lohn versichert. Der Teil, den man in Abzug bringt, wird «Koordinationsabzug» genannt. Aktuell beträgt dieser 25'725 Franken, sieben Achtel einer AHV-Maximalrente. Der Koordinationsabzug ist ein Fixbetrag, der bei Teilzeitarbeitenden zu sehr tiefen versicherten Löhnen führt. Die Reform BVG21 sieht einen flexiblen Koordinationsabzug von 20 Prozent des AHV-Lohns vor. Dadurch fällt bei tieferen Löhnen auch der Abzug kleiner und der versicherte Lohn höher aus.

Beispiel «Teilzeit»
Jahreslohn CHF 30'000 für ein Teilzeitpensum


Aktuell CHFBVG21 CHF
Bruttolohn30'00030'000
Koordinationsabzug25'7256'000
Versicherter Jahreslohn4'27524'000

Beispiel «Mehrfachbeschäftigte»
Zwei Teilzeitstellen, eine mit Jahreslohn CHF 30'000 und eine mit Jahreslohn CHF 25'000.

Job 1Aktuell CHFBVG21 CHF
Bruttolohn30'00030'000
Koordinationsabzug25'7256'000
Versicherter Jahreslohn4'27524'000



Job 2

Bruttolohn25'00025'000
Koordinationsabzug25'7255'000
Versicherter Jahreslohn3'67520'000



Total Lohn55'00055'000
Total versicherter Lohn7'95044'000

Myriam Minnig: Der maximal anrechenbare Lohn nach BVG steigt nicht in derselben Geschwindigkeit wie die Löhne. Wäre es sinnvoll, einen Mechanismus zu implementieren, der Lohnentwicklungen berücksichtigt?

Erich Ettlin: Das stimmt vermutlich; ein solcher Mechanismus ist aber bis jetzt kein Thema.

Maximal anrechenbarer Lohn

Der jährliche anrechenbare Bruttolohn nach BVG ist begrenzt, aktuell auf 88'200 Franken (dreifache AHV-Maximalrente). Von diesem Lohn wird noch der Koordinationsabzug abgezogen, sodass maximal ein Jahreslohn von 62'475 Franken obligatorisch versichert ist.

Bei Personen, die mehr als 88'200 Franken verdienen, tritt somit alljährlich eine Vorsorgelücke auf, denn der die Schwelle übersteigende Lohn wird nicht berücksichtigt. Die Differenz zwischen dem «gewohnten» Lohn und der späteren Rente wird so grösser ausfallen als verfassungsrechtlich beabsichtigt.

Gerade in Branchen mit hohen Durchschnittslöhnen berücksichtigen die Pensionskassen oft einen höheren anrechenbaren Lohn. So ergibt sich eine überobligatorische Leistung.

Myriam Minnig: Ganze 15 Jahrgänge werden mit der Reform BVG21 von Rentenzuschlägen profitieren, unabhängig davon, ob sie zu den 15 Prozent gehören, die von der Senkung des Umwandlungssatzes betroffen sind. Die Basis für die Zuschläge bildet das vorhandene Vorsorgeguthaben. Wer ein Guthaben von 441'000 Franken oder mehr hat, erhält keine Zuschläge; je geringer das Guthaben, desto höher der Zuschlag. Ist das Vorsorgeguthaben eine gute Bemessungsgrundlage?

Erich Ettlin: Grundsätzlich sollte man nur den Versicherten einen Rentenzuschlag (oder Zuschlag zum Kapital) geben, die durch die Reform auch betroffen sind. Das sind, wie schon erwähnt, ca. 15 Prozent der Personen, die nur in der obligatorischen Vorsorge versichert sind. Und auch in dieser Personengruppe nur denjenigen, die kurz vor der Pensionierung stehen (wir haben gesagt längstens 15 Jahre). Um der Vorlage jedoch politisch eine Chance zu geben, haben wir uns zu einer Lösung durchgerungen, bei der ca. die Hälfte aller Versicherten zwischen 50 und 65 Jahre einen Zuschlag erhält, auch wenn ein grosser Teil davon nicht von der Senkung des Umwandlungssatzes betroffen ist. Die Wahrscheinlichkeit der Betroffenheit haben wir an der Höhe des Vorsorgeguthabens gemessen.

Ausgleichsmassnahme Rentenzuschlag

15 Jahrgänge (Übergangsgeneration), die ab Inkrafttreten der BVG-Reform pensioniert werden, erhalten je nach Vorsorgeguthaben einen lebenslangen Rentenzuschlag. Wer ein Guthaben von 441'000 Franken oder mehr hat, erhält nichts - nach Schätzung des Bundes trifft das auf etwa die Hälfte der Übergangsgeneration zu. Der Maximalzuschlag wird bei einem Vorsorgeguthaben von bis zu 220'500 Franken gewährt, der je nach Jahrgang bei 200, 150 oder 100 Franken pro Monat liegt - das dürfte etwa 25 Prozent der Übergangsgeneration betreffen. Bei einem Vorsorgeguthaben zwischen 220'500 und 441'000 Franken variiert der Zuschlag je nach Höhe des Guthabens. Dabei werden allfällige Vorbezüge für Wohneigentum der letzten 20 Jahre angerechnet.

Myriam Minnig: Geld einerseits rentabel und andererseits sicher anzulegen, stellt eine Herausforderung dar - die beiden Anforderungen stehen im direkten Widerspruch. Es gibt immer mehr Stimmen, die den Mitarbeitenden eine freie Wahl der Pensionskasse ermöglichen möchten. Ist das realistisch?

Erich Ettlin: Bisher wurden alle Vorstösse in diese Richtung verworfen. Für die Arbeitgebenden wäre das ein absoluter Albtraum. Sie müssten mehrere verschiedene Verträge administrieren und die Arbeitnehmenden bei unterschiedlichen Pensionskassen abrechnen. Das wäre in der Praxis nur umsetzbar, wenn die Mitarbeitenden sich eigenständig einer Kasse anschliessen, wodurch die zweite Säule von den Arbeitgebenden entkoppelt würde.

Myriam Minnig: Bei Personen, die im Laufe des Erwerbslebens in verschiedenen Staaten arbeiten, können empfindliche Vorsorgelücken entstehen. Insbesondere innerhalb von Europa können Pensionskassenguthaben nicht in eine ausländische Vorsorgelösung übertragen werden. Stellt dies ein politisches Anliegen dar?

Erich Ettlin: Nein. Aktuell haben wir genug Themen auf nationaler Ebene, die es anzugehen gilt.

Wegzug ins Ausland

Wer die Schweiz definitiv verlässt und in einen Drittstaat (ausserhalb EU/EFTA) zieht, kann sein Pensionskassenguthaben beziehen. Wer jedoch in einen EU- oder EFTA-Staat zieht und dort einer beruflichen Vorsorge nach lokalem Recht angeschlossen ist, kann das Vorsorgegeld in der Schweiz weder beziehen noch in die ausländische Vorsorge einbringen. Das Guthaben wird auf einem Freizügigkeitskonto oder in einer Freizügigkeitspolice deponiert. Wird bis zur Pensionierung keine Tätigkeit mehr in der Schweiz aufgenommen, kann dieses Geld nur in Form von Kapital bezogen werden, die Rentenoption entfällt.

Myriam Minnig: Ich frage dich nicht nach einer Prognose, aber wo steckt aus deiner Sicht das grösste Risiko im Hinblick auf die Abstimmung?

Erich Ettlin: In der Kumulation der Ablehnungsgründe. Die einen sagen, die Reform sei zu teuer, anderen geht sie zu wenig weit. Stimmen alle diese Personen mit «Nein» ab, wird es knapp.

Myriam Minnig: Vielen Dank, Erich Ettlin, für diesen Einblick aus erster Hand und die Zeit, die ihr im Parlament für diese schwierigen Themen einsetzt.


Fazit

Ganz gleich, ob man die Reform BVG21 befürwortet oder nicht, sie verdient, dass wir von unserem Stimmrecht Gebrauch machen und zur Urne gehen - weil wir die Möglichkeit haben.



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